Und dann stand da geduldig unsere grüne Tara am Kamin als Sinnbild für all die Milliarden von Frauen der gesamte Erdgeschichte, die es vor mir geschafft haben. Jeder Blickkontakt mit dieser tibetischen Gottheit gab mir die gebündelte Kraft all der Mütter, die es geschafft haben und liess einen Teil der Schmerzen einfach verfliegen. So konnte ich ungeheure Kräfte freisetzen! Zu meiner grossen Überraschung fühlte ich, dass wir Frauen im unteren Rücken ein Gelenk oder „Scharnier“ haben, welches das Becken öffnet! Somit war es eine grosse Wohltat, dass Felix mit seiner Hand an meinem Rücken bei jeder Presswehe einen kräftigen Gegendruck erzeugte. Petra blieb immer dezent im Hintergrund, machte Notizen und bat mich von Zeit zu Zeit, die Position zu wechseln zwischen Sitzen, Liegen, Hocken, Stehen, Gehen. Denn Gebären ist Bewegung resp. Leben ist Bewegung.
Unterdessen ging die Sonne auf, und Felix öffnete alle Vorhänge. Ein schöner Morgen. Um 06h30 begann Felix, alle seine Klient/innen anzurufen, die heute bei ihm einen Termin gehabt hätten. Fast alle waren erstaunt, dass wir „zu Hause“ sind… Dann veränderte sich der bisherige Press-Schmerz. Er bekam eine andere Qualität. Er wurde stechender. Dies waren keine Presswehen mehr, sondern die letzte Phase des Austritts begann. Kurz danach um 11h00 platzte die Fruchtblase, direkt über dem WC – mein Lieblingsort während der Presswehen. Dann ging es ganz schnell. Felix und Petra sahen schon das Köpfchen. Nun wurde es Zeit! Petra drängte, dass ich aufstehe und zum Pool gehe. Am Pool ankommend, kam bereits die nächste Welle. Ich stand breitbeinig am Pool, hielt mich am Rand des Pools fest, und „es presst“. Danach stieg ich vorsichtig über den Poolrand ins Wasser und machte es mir im Luftring bequem. Das Wasser gab wunderbaren Auftrieb von unten. Was für eine Erleichterung. Herrlich!
In diesem Moment kam auch Felix ins Wasser. Nun wurde es auch für ihn „ernst“. Wir sassen uns gegenüber. Petra stand ausserhalb des Pools und gab Kommando: „Silke, nicht mehr pressen! Nur noch atmen!“ Nach Stunden des Pressens war ich so im Rhythmus, dass ich nicht sofort reagierte. Dann wurde Petra lauter und energischer: „Silke, nicht mehr pressen, nur noch atmen!“ Ich erinnerte mich an die Geburtsvorbereitung, als Petra erklärte, dass wir nur eines können: entweder pressen oder atmen. In diesem Moment liess ich alles los und atmete tief in den Schmerz hinein. Ich war ganz klar und wach und konnte alles genau beobachten. Ich konnte meinen Beckenboden vollkommen entspannen.
Dann kam ein grosser Gefühls-Höhepunkt: Durch die Entspannung liess ich das Baby los, und ich spürte genau, wie es ganz allein weitermachte! Das Baby schraubte sich von allein durch den Geburtskanal hindurch! Petra und Felix riefen: „Das Köpfchen kommt!“ Unser Baby presste sich ganz allein durch die Öffnung hindurch. Und plötzlich waren alle Schmerzen weg. Der dickste Teil des Baby-Körpers, der Kopf, war durch den Kanal hindurch, das Baby flutschte unter Wasser heraus und schwamm in Felix Hände. Petra drehte ihren Kopf zur Uhr. Es war 11h11. Ich war sehr erleichtert, sehr glücklich und konnte mich nun vollkommen entspannen.
Kein Dammriss, kein Dammschnitt, keine Medikamente, kein Rückgang der Wehen, kein Schichtwechsel der Hebamme, keine Hektik oder künstliche Dramatik, keine fremden Gerüche, kein grelles Licht, keine maskierten, nur flüchtig bekannten Menschen in weissen Kitteln um mich herum, niemand der dreinredet und stört.
Einfach nur eine ganz natürliche Geburt in ganz privater, persönlicher und intimer Atmosphäre mit Menschen meines Herzens und meines Vertrauens.
Eine ganz natürliche Geburt mit ganz natürlichen Schmerzen, in unserem ganz individuellen Rhythmus, geleitet durch die Liebe und die Kraft zwischen Mutter, Vater und Kind, gehalten durch die Weisheit der Hebamme und gesegnet durch viele unsichtbare Helfer. Eine ganz natürliche Geburt – das Geburtsrecht eines jeden Menschen.
Erst später wurde mir klar, welche grosse symbolische Bedeutung dieser Geburtsakt hatte: Da im Anfang alle weitere Entwicklung bereits wie in einem Keim enthalten ist, weiss ich jetzt, dass ich als Mutter unser Kind im Leben immer bis zur Tür begleiten kann – egal in welcher Situation. Es muss aber selbständig aus eigener Kraft hindurch gehen. Und unser Kind schafft es!
Während ich mich auf dem Bananenluftkissen entspannte, hielt Felix unser Baby in seinen Händen voller Staunen über das grosse Wunder, das geschehen war. Das Baby schaute ihn von unten aus dem Wasser an, als ob es sagen wolle: „Hallo Papa, jetzt bin ich hier.“ Es schwamm noch eine Weile unter Wasser. Petra fotografierte alles. Irgendwann legte Petra mir dann unser Baby auf meinen Oberkörper und Felix flüsterte mir ins Ohr: „Es ist eine Jette.“ Wau!! In diesem Moment durchfloss mich etwas Numinoses! Jetzt ist sie hier. Das Mädchen, was sich mir das erste Mal vor acht Jahren in einer klaren Vision zeigte und mir ihr Kommen übermittelte, zu einem Zeitpunkt, als ich Felix noch gar nicht kannte.
Einige Zeit später durchtrennte Felix dann die Nabelschnur mit einer Schere, die von Petra nur für diesen einen Zweck verwendet wird. Wir wollten die Nabelschnur eigentlich auspulsieren lassen, aber da Jette etwas „müde“ wirkte, drängte Petra auf ein früheres Durchtrennen. In diesem Moment schien Jette aufzuwachen und wurde „lebendig“. Ca 45 Minuten nach der Geburt bat Petra mich, aus dem Wasser auszusteigen, damit ich nicht zu kalt werde. Ich legte mich auf die Sonnenliege und wurde eingehüllt in warme Tücher (ein kleiner Heizofen wirkt Wunder). Unterdessen war fast eine Stunde vergangen, und die Plazenta war immer noch nicht geboren. Petra musste etwas drängeln und sagte: „Silke, ich mache jetzt etwas, das ich nicht gerne tue und auch nur ein einziges Mal tun werde. Ich entschuldige mich bereits im Vorfeld.“ Dann presste sie ihr ganzes Gewicht auf meinen Oberbauch und – platsch – flutschte die komplette Plazenta heraus. Erst jetzt war die Geburt wirklich abgeschlossen!
Die Plazenta sollte nie länger als eine Stunde nach der Geburt noch im Bauch sein, da sie sonst wieder anwachsen und dann nicht mehr gefahrlos heraus kommen könnte. Nun ist alles gut! Und Petra staunte: Die Plazenta war 1A. Sie war ganz dunkelrot und sehr kräftig! Ein gutes Zeichen, dass Jette im Bauch optimal versorgt wurde. Später entnahm Petra ein Stück aus der Plazenta, um daraus Plazenta-Globuli herstellen zu lassen. Und ein Jahr später beerdigten wir die bis dahin eingefrorene Plazenta im nahe gelegenen Wald unter einem jungen Baum.
Nachdem Jette das erste Mal an meiner Brust getrunken hatte, begann Petra, Jette zu wiegen, sehr liebevoll die üblichen Tests durchzuführen, die Nabelschnur-Wunde sorgfältig zu versorgen und ihr die ersten Kleider anzuziehen. Petra legte Jette in ein weiches Tuch und zog sie mit der Handwaage in die Luft. 2,8 kg, ein Leichtgwicht. Ich filmte alles, Felix fotografierte alles. Jettes langgezogener, ailien-artiger Hinterkopf sah zunächst etwas gewöhnungsbedürftig aus, aber es ist ja bekannt, dass die Schädelknochen nicht fest verwachsen sind, sondern sich verschieben, um in Kombination mit der Öffnung des Mutter-Beckens den optimalen Austritt bei der Geburt zu ermöglichen. Da bei der Geburt ein bestimmter „Stress“ für das Baby entsteht, war es natürlich wichtig, dass Felix Jettes Energieströme gleich am nächsten Tag mit cranio-sacraler Osteopathie wieder harmonisierte durch sanfte Berührungen der einzelnen Schädelknochen.
Unterdessen hatte Petra eine chinesische, vegetarische Kraftsuppe (Hühnersuppe, ohne Fleisch, mit Pilzen) gekocht, damit ich wieder zu Kräften käme, ein Ritual aus der langen Geschichte der weisen Hebammen (zu bestellen bei »Lian.ch). Das war wirklich eine „spezielle Suppe“, die ich nicht unbedingt täglich essen würde, aber sie gab Kraft, und das war wichtig. Ich war mit meinen Hormonen im Hoch und rief meine Eltern an, um die frohe Botschaft zu überbringen. Dann gingen wir zu dritt schlafen, Jette in der Mitte.
Petra hatte unseren Haustürschlüssel und kam ein paar Stunden später wieder, um nach dem Rechten zu schauen. Nachdem wir während 3 Monaten vor der Geburt schon zusammen gearbeitet und uns immer besser kennengelernt hatten, gemeinsam durch den Geburtsprozess hindurchgegangen waren, begleitete Petra uns nun auch nach der Geburt während zehn Tagen täglich zwei Stunden. Am 6. Tag badeten wir Jette das erste Mal, da sie nun für diese grosse Herausforderung einigermassen stabil war. Petra lehrte uns so viel. Sie war nicht nur unsere weise Lehrerin, sondern sie wurde zu einer wahren Ersatz-Mutter. Durch ihre Hilfestellung, durch ihr Lachen, ihre Geduld, ihre unendliche Liebe zur Schöpfung und durch ihre stetige Achtsamkeit als Hebamme kamen wir unmittelbar in Kontakt mit einer archaischen Kraftlinie von weisen Frauen, durch die das Wissen von Frau zu Frau (und zu Mann) und von Generation zu Generation weitergegeben wird – eine zutiefst berührende und spirituelle Erfahrung.